Als Charles Darwin 1831 seine fünfjährige Schiffsreise auf der Beagle antrat, die letztlich die Grundlage für seine Forschungsergebnisse in Bezug auf die Entstehung der Arten darstellte, hatte er es noch leicht: Er beobachtete etliche Tierarten und beschrieb deren Verwandtschaftsverhältnisse einfach anhand der Ähnlichkeiten, die er sehen konnte. Tiere, die sich ähnlich sehen, müssen auch eng verwandt sein – das dachte er zumindest. Und so überschrieb er auch den ersten Evolutionsbaum, den er in sein Notizbuch kritzelte, mit den Worten „I think“ – denn wenn man nachdenkt, muss Evolution so in etwa stattgefunden haben. Doch das, was zunächst einfach erscheint, ist leider zu vereinfachend, um detaillierte Fragen zu beantworten. Denn wie will man allein an äußerlichen Ähnlichkeiten erkennen, wann genau beispielsweise der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse gelebt hat? Wie kann man die Entwicklung des Grippevirus für die nächste Grippesaison vorhersagen, damit man den Impfstoff rechtzeitig produzieren kann? Wie entwickeln sich Antibiotikaresistenzen? Das sind zwar alles Fragen mit Bezug zur Evolution; deren Antworten kann man aber nicht durch reines Beobachten der Unterschiede verschiedener Spezies finden. Wer solche Fragen beantworten will, kommt heutzutage nicht umhin, sich mit DNA, RNA und Proteinen zu beschäftigen. Dumm nur, dass allein der Mensch schätzungsweise 23.000 Gene besitzt – die will und kann keiner mehr von Hand auswerten. Dafür braucht man mathematische Modelle und Methoden, wie die Biomathematik sie liefert.

Doch mit der Biomathematik ist das so eine Sache. „Biomathe – was ist das? Ach, du meinst, Bio und Mathe, vielleicht auf Lehramt? Oder Mathe mit Nebenfach Biologie?“ Mit solchen und ähnlichen Fragen sind unsere Studenten oft konfrontiert. Dabei ist die Biomathematik einfach das Forschungsgebiet, das sich damit befasst, wie man biologische Fragen mit mathematischen Lösungsansätzen beantworten kann – so wie die Wirtschaftsmathematik versucht, wirtschaftswissenschaftliche Probleme mathematisch zu lösen. Somit unterscheidet sich eben ein Studium der Biomathematik auch fundamental von einem Studium der Mathematik mit Nebenfach Biologie, denn wenn man zwei Fächer studiert, bleiben diese meist relativ unabhängig voneinander und ohne sichtbaren Zusammenhang. Bei uns in Greifswald wird den Studenten aber bereits im Bachelorstudium die Möglichkeit geboten, beide Fächer auf universitärem Niveau zu verknüpfen – und das ist deutschlandweit einmalig.

Einmalig? Okay, das erklärt, warum viele Leute das Fach nicht kennen. Trotzdem, einmalig – das klingt ja erst mal super. Oder doch nicht? Was ist, wenn der zukünftige Chef das Fach nicht kennt? Und was kann man damit denn überhaupt anfangen? Jobanzeigen für Biomathematiker sieht man doch wohl nie, oder? Wird man als Biomathematiker also arbeitslos?

Dass solche oder ähnliche Zweifel unbegründet sind, zeigen unsere Absolventen-Statistiken. Denn es stimmt zwar, dass die Anzeigen, in denen explizit ein Biomathematiker gesucht wird, rar gesät sind – die Einsatzgebiete für Biomathematiker sind es aber nicht: die möglichen Tätigkeitsfelder sind vielfältig, sei es die angewandte Arbeit in biologischen Laboratorien, die statistische Datenanalyse, das Implementieren von Programmen als Bioinformatiker oder aber das theoretische Entwickeln mathematischer Modelle – ein Biomathematiker hat für all das das nötige Handwerkszeug erlernt und kann sich dann in die Richtung spezialisieren, die ihm am meisten liegt. Unsere Absolventen arbeiten zum Beispiel in Kliniken, denn auch die Medizin braucht unser Knowhow. Wenn Sie zum Beispiel einmal in die missliche Lage kommen, einen Tumor zu haben, werden Sie sehr dankbar sein, wenn der so bestrahlt wird, dass das Tumorgewebe wirklich abstirbt, das umliegende Gewebe aber unbeschadet bleibt.

Hierbei handelt es sich um ein ganz typisches Problem aus dem Bereich der mathematischen Optimierung. Oder wenn es um neue Medikamente geht, die sich zum Beispiel auf den Hormonspiegel in menschlichen Zellen auswirken. Bevor man die mit teuren Tierversuchen oder gar am Menschen testet, müssen erst mal Simulationen am Computer zeigen, wie die Kettenreaktion aussieht, die das Medikament in der Zelle auslösen wird – denn wenn es da schon anders läuft als geplant, ist das kein Medikament, das man Menschen geben sollte. Doch der Computer benötigt hierfür eben ein mathematisches Modell, das irgendwer entwickeln muss. Und haben Sie schon mal von einem Vaterschaftstest gehört, der die Vaterschaft zu 99,9998% bescheinigt? Wie kommt man denn auf diese Zahl, und warum bekommt man hier keine Sicherheit von 100%? Um das zu verstehen, müssen Sie das mathematische Modell verstehen – die Entwickler dieser Tests kamen also nicht umhin, sich mit Biomathematik zu befassen.

Ich könnte noch etliche Beispiele aufzählen, doch die genannten reichen schon, um zu sehen, dass die Biomathematik viel häufiger gebraucht wird, als den meisten bewusst ist, und dass die meisten unserer Absolventen daher nur wenige Bewerbungen schreiben müssen, ehe sie einen Arbeitsplatz finden. Und während es viele Biologen und auch relativ viele Mathematiker gibt, findet ein Arbeitgeber nur schwer einen Vermittler zwischen diesen beiden Positionen, der sozusagen beide Sprachen spricht – ein Biomathematiker kommt da sehr gelegen.

Gut, denken Sie jetzt vielleicht, man findet also einen Job, zumindest, wenn man nicht darauf wartet, dass in der Anzeige von einem Biomathematiker die Rede ist, und wenn man sich selbstbewusst bewirbt. Aber 23.000 Gene? Die Auswertung solcher Datenmengen klingt doch sehr nach Statistik. Und Computersimulationen? Das klingt doch stark nach Informatik. Mathematische Modelle? Das klingt doch sehr nach theoretischer Mathematik. Und dann auch noch die Biologie! Selbst wenn Sie die Anwendungsgebiete spannend finden, wette ich, dass Sie mindestens bei einem dieser Punkte sagen: Nein, das will ich nicht. Programmieren – nein danke. Oder Statistik – bloß nicht. Und das ist auch logisch: Wenn man ein breites Grundwissen vermittelt bekommt, ist natürlich immer etwas dabei, das einem nicht so gut gefällt. Das ist sicher in jedem Studiengang so. Aber im Laufe Ihres Studiums der Biomathematik werden Sie mehr und mehr zum Spezialisten und genießen dann die Wahlfreiheit, in welche Richtung Sie sich letztlich orientieren wollen – und Möglichkeiten gibt es da so viele wie es eben Tätigkeitsfelder für Biomathematiker gibt.

Wenn Sie auf Darwins Spuren wandeln wollen, müssen Sie nur Ihr Abitur und Ihre Motivation mitbringen. Es gibt keinen NC und spezielle Vorkenntnisse sind nicht erforderlich – das, was Sie bei uns können müssen, bringen wir Ihnen bei. Auch Quereinsteiger, die zum Beispiel aus der Mathematik oder der Biologie zu uns wechseln wollen, sind uns willkommen.

Charles Darwin wäre sicher froh gewesen, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte zu lernen, wie man biologische Fragen systematisch mit den Mitteln der Mathematik beantworten kann – nicht zuletzt auch, weil es ihm die fünfjährige Schiffsreise erspart hätte. Denn was nach einem langen Urlaub mit ein paar Vogelbeobachtungen klingt, war in Wahrheit mit harter Arbeit und körperlichen Strapazen verbunden, zumal Darwin schwer seekrank war. Dann doch lieber ein paar Formeln!

 

Foto: Mareike Fischer